In der Bundesrepublik Deutschland ist Kultur eine Angelegenheit der Länder und basiert dementsprechend auf einer föderalen Struktur. Doch wie viel Kulturhoheit brauchen die Länder eigentlich? Wie viel Bundeskulturstaatlichkeit verträgt der deutsche Föderalismus? Endet die kulturpolitische Verantwortung der Bundeslän-der an den eigenen Grenzen? Wäre die Einrichtung eines Bundeskulturministeri-ums sinnvoll, um gemeinsam handeln und in Zukunft mehr erreichen zu können?
So alt wie alle Staatlichkeit ist die Diskussion, wie Zuständigkeiten und Aufgaben in einem Land am besten verteilt werden. Sie steht immer dann aufs Neue an, wenn Menschen darüber nachdenken, wo und wie sie sich gegenüber anderen profilieren. Demokraten nutzen die Chance, sich in einem neuen Licht zu präsentieren, naturgemäß öfter als Ideologen. Letztere schließen nämlich (liebevoll umschrieben) andere Sichtweisen der Realität am liebsten aus.
Meist erscheint die Debatte um die politische Verortung der Kultur im Zwielicht, weil die beiden Möglichkeiten in der Alltagswirklichkeit keineswegs astrein eingesetzt sind. Dabei bestreiten weder der Zentralist, der alle unter ein Dach zwingt, noch der Föderalist, der am liebsten ganze Marktplätze organisiert, dass sie die Wirklichkeit aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Ganze besehen und bewerten. Die Empfänger solcher Nachrichten muss man allerdings immer wieder daran erinnern. Der (mit dem Fotografen gedacht) zielführende Objektiveinsatz auf Aufgabe, Proband und Lösung liefert Parameter, die ein bestehendes Vor-Urteil bestätigen, korrigieren, verwerfen helfen – je nachdem.
Unvermittelt befinden wir uns in der schönsten Debatte um das, was Kultur – aller rechtsstaatlicher Ordnung zum Trotz – offeriert: Die Vielfalt der Realitäten, die Einmaligkeit eines Angebotes, die Besonderheit einer Erscheinung. Unsere Vorfahren haben das nicht nur erkannt, sondern zelebriert. Sie fassten die Ergebnisse unter den Sammelbegriffen Brauchtum und Tradition zusammen und sicherten sich die Urheberschaft ihrer Ideen, um sich gegenseitig vorführen zu können, was sie voneinander unterscheidet. EInen besseren Grund und Anlass, sich gegenseitig zu beobachten, zu besuchen, Anleihe zu nehmen beim anderen, gibt es wohl kaum.
Der Blick zurück in unsere gemeinsame kontinentale (europäische) Geschichte beweist: Nirgends sonst wie in Deutschland sind die kulturellen Unterschiede so unverfälscht geblieben bis heute und lebendig wie im Verbund der Stämme hier – gegründet auf Herzogtümern und Königreichen der kontinentalen Mitte. Es hat sich gelohnt, die Vielfalt zuzulassen, auch sie beizubehalten. Die Theaterdichte in unseren Breitengraden belegt das, die Zahl der Orchester tut es ebenso wie die Zahl der Ausbildungs- und Studienplätze in der musikalischen (musischen) Szene. Drei Dinge tragen, wie wir heute wissen, eine Gesellschaft, und tun es verlässlich: Die Sprache, das Geld und die Kultur. Dort, wo letztere bunt ist, vielfältig, im Auftritt unverwechselbar, schwächt das diesen ebenso wenig wie den daraus resultierenden Stellenwert. Im Gegenteil: Da wachsen Kraft und Stehvermögen zu. Wer sich kulturell emanzipieren darf und darin ständig mit anderen misst, gewinnt an Statur. Dort aber, wo einheitliche Maßstäbe gelten, stirbt die Neugier gegenüber Alternativen. Unterschiede, in Generationen gewachsen, werden kleiner, verflachen und verändern schrittweise die kulturelle Identität, weil die Menschen verlernen, sich unverwechselbar zu zeigen, so „einmalig“ zu sein wie sie die Schöpfung eigentlich will. Gänzlich undeutsches Beispiel für einen solchen Prozess mag da der Siegeszug der Jeans sein. Wir Bayern – das Beispiel steht für viele – leben eine drei-, nein viergeteilte Kulturwirklichkeit (sogar im eigenen Krimiwunsch, beim Tatort, findet das seinen Niederschlag): Wo bliebe die fränkische Trilogie der Kultur, die schwäbische Vielheit der Dialekte, auch der räumlichen Abgrenzung (Allgäu!), das Selbstbewusstsein der Alt-bayern (inzwischen mehrheitlich von anderen, ja fremden „Landsleuten“ ergänzt und aufgefüllt), auch das neue, aus der vormaligen Heimat transferierte Tempera-ment der Sudetendeutschen? Was geschähe mit solchen kulturellen Farbtupfern, wenn der Bundeskulturminister Kieler Maßstäbe anlegte? Was tun, wenn ein neues deutsches Kulturverständnis einen Migranten beauftragt, sich um Riten und Bräuche zu sorgen, ihre Pflege zu veranlassen? Welche behalten Rang und Gültigkeit, welche verschwinden? Wer kümmert sich um die kulturellen Besonderheiten, die sich ohne geordneten Wettstreit nicht mehr ausbreiten? Wer erzählt in Brüssel, was im Gebirge nottut, was am Meer und inwiefern München oder Nürnberg sich als Spitzenmetropole eignen? Wer sichert „Dreikönig“, den hohen kirchlichen Feiertag, für NRW und Bayern? Ein Minister, ein Kulturministerium für alle mündet in eine Rangliste von Qualitäten, die nicht mehr viel mit dem Wettbewerb der Ideen zu tun hat. Das unterdrückt die Freude am eigenen Können, lässt ganze Szenen verkümmern und klemmt an allen Ecken und Enden, vor allem dort, wo die notwendigen Mittel sowieso schon knapp geworden sind, es wohl auf lange Sicht auch bleiben. Ein (zentraler) Geldbeutel ist schneller leer und klamm als viele – 16 bei uns. 16mal Kultur ist 16mal Originalität, Ideensammlung und Wettstreit der Köpfe. Schon deshalb sind Langeweile, Eintönigkeit und wachsende Gleichgültigkeit Stichwortgeber dann aus dem falschen Wörterbuch. Das Viele, die Alternativen machen und halten munter. Eben Vielstatt Einfalt! In Zeiten der Globalisierung ist das Pflicht!
Thomas Goppel
In: Musikforum 04/2013, http://www.musikrat.de/musikrat/publikationen/musikforum.html