Briefwechsel zu Studienabbrechern in MINT-Fächern an Bayerns Hochschulen

06.02.2013 in Briefwechsel. Kommentare deaktiviert für Briefwechsel zu Studienabbrechern in MINT-Fächern an Bayerns Hochschulen.

Von: Peter S.-W. Gesendet: Samstag, 2. Februar 2013 09:25 
An: goppel@t-online.de

Sehr geehrter Herr Dr. Goppel,

in der Allgäuer Zeitung vom 31.01.2013 habe ich zum Thema Studienabbrecher folgendes Zitat von Ihnen gelesen:
“Vor allem in Mathematik und Physik haben wir nicht die Lehrer, die unsere Gymnasiasten an das Hochschulstudium hinführen“
Meine Fachkollegen und ich sind sehr empört über diesen Ausspruch. Ist Ihre Meinung hier richtig wiedergegeben worden? Falls dies der Fall ist: Können Sie Ihre Aussage bitte begründen oder erläutern?
Ich bin auch gerne zu einer weiteren Diskussion über dieses Thema bereit.

Mit freundlichen Grüßen

StD Peter S.-W.

Sehr geehrter Herr S.-W., verehrter Herr Kollege (wie ich annehme),

wenn es danach geht, welche Nachfragen eine vordergründige Berichterstattung in unseren Tageszeitungen auslöst und wie viel Arbeit daraus entsteht, dann dürfte man sich als Parlamentarier an keiner aktuellen Diskussion mehr beteiligen. Ein besonders aufschlussreiches Bespiel ergibt sich aus der Landtagsausschussdiskussion „Hochschule“ dieser Woche, die sich mit der Frage zu befassen hatte, wie viele und wie begründet Bayern an seinen Hochschulen Studienabbrecher in den MINT-Fächern registriert. Die Kolleginnen wälzten eine Stunde lang Argument um Argument ohne auch nur einmal auf die Überlegung einzugehen, dass die Frage nach Studienabbrechern auch etwas mit der zu prüfenden bzw. zu bildenden Klientel zu tun haben könnte. Vom vielfältigen Versagen der Hochschulen und dem dort überforderten Personal war die Rede, von zu hohem Studientempo, der Schulzeitverkürzung als schlimmer Einflussgröße, zu geringer zeitlicher Vorbereitung auf die gestellten Fragen und inhaltlicher Überforderung des akademischen Nachwuchses, der wenig probandengerechten Hochschulvorgaben. Nachdem ich mir die wohlfeilen Zeigefinger auf je den anderen Beteiligten am Durchfalldilemma in mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundprüfungen an unseren Hochschulen hatte gefallen lassen, war mir daran gelegen, unser Landtagsthema dorthin auszudehnen, wo es meiner Ansicht nach hingehört: in die Schul-, Bildungs- und Abiturbilanz der letzten 30 Jahre, über deren explosive Entwicklung, was die ständige Ausdehnung der Abiturienten- und FOS-Absolventenzahlen, angeht, nie jemand wirklich nach- bzw. vorgedacht zu haben scheint.

Ein Land, das in rund dreißig Jahren die Prozentzahl der Abiturienten an einem Schülerjahrgang fast verzehnfacht, zusätzlich noch einmal mehr als die Hälfte solcher Probanden aus den FOS/BOS-Einrichtungen entlässt, von Schülerinnen und Schülern nicht weniger Sach- und Detailkenntnis in den Prüfungsfächern erwartet als früher, sondern von der Zahl der Fächer und Themen her mehr, darf sich m.E. nicht wundern, dass die erhoffte größere Exzellenz zumindest hinterherhinkt, jedenfalls das Tempo nicht mithalten kann und wird.

Ein Land, das Jahr für Jahr neuen Stoff in die Lehrpläne packt und zusätzliche Fächer und Inhalte in neuer Kombination dem Schulstoff (aller Schularten) zufügt, darf sich nicht wundern, dass die vergrößerte Klientel übertrittgeeigneter Schülerinnen das Tempo und die Bandbreite der Stofferfassung ohne zusätzlichen Lehrer und Erziehereinsatz nicht oder nur unzureichend bewältigt.

Ein Land, in dem dank der politisch kontroversen Vorstellung von Bildung das Gymnasium zur Gesamtschule wird, kann mit der Stofffülle und -problematik nur so fertig werden wie es uns die Nordländer vormachen: Stoffreduktion um Anteile, die einen Jahreslehrplan während der Gymnasialzeit weit übersteigen oder andere Stoffausdünnung.

Ein Land, das diesen Weg nicht gehen will und kann, muss dafür sorgen, dass in der Klassenbildung an der Schule (kleine Klassen) oder in der Ausbildung der Lehrer (Didaktik, Methodik) gänzlich andere Maßstäbe angesetzt werden als bisher, die Lehrerbildung also neu definiert und organisiert.

Ein Land, das Bachelor und Master an die Stelle der Diplomstudiengänge setzt, also ganz andere und neue Studienabläufe greifen lässt, muss einen viel größeren Praxisbezug der Lehrerbildung vorsehen (durchgängig) als bisher, ist dazu auch deshalb gezwungen, weil das Zeitalter der PCs und der Computer das veränderte Herangehen an den Stoff, neue Lernmethoden und andere Lern- und Leistungsabfolgen notwendig macht.

Ein Land, das seine Lehrer und Lehrerinnen zeitgemäß ausbildet, hat die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in der Lehrerbildung zu berücksichtigen und den Erziehungsauftrag der Schule neu, umfassender zu definieren, den schulischen Fachmann zu entlasten.

Die Reihe der Argumente ist lange nicht zu Ende. Es ist auch nicht meine Aufgabe, sie zu listen und zu komplettieren. All das, was da am Schulalltag neu ist und nicht aufgearbeitet, noch in den Kinderschuhen der Umsetzung steckt und Defizite aufweist, die wir aller bayerischer Schulqualität zum Trotz seit einigen Jahren zu beseitigen alle Anstrengung (auch mit Tausenden neuer Planstellen) bemüht sind, will bedacht sein, wenn sich die Gesellschaft heute darüber beklagt, dass wir zu viele Studienabbrecher haben. Das stimmt. In der Bewertung treffen wir uns ja wohl auch.

Sind wir uns auch darin einig, dass bestimmte Missstände, die wir feststellen, lange Anläufe haben, auch brauchen, um zu entstehen? So kommt es zu meiner Feststellung in der Landtagsdebatte der vergangenen Woche: „Wer die Reduktion der Studienabbrecherquote an unseren Hochschulen will, ihr rasch zu Leibe gerückt sehen möchte und dabei besonders die für den Unterrichtsalltag zumindest in Deutschland überdurchschnittlich anfälligen MINT-Fächer im Auge hat, muss mit den Maßnahmen der Verbesserung im Schulalltag anfangen, in der Lehrerbildung, bei der Lehrplanerstellung, bei einer zeitgemäßen Erziehungskonzeption und in einem Schulkonzept, das in kleinen Lerngruppen Gelegenheit gibt, die ansonsten den medialen Konsumgewohnheiten „zu verdankende“ Oberflächlichkeit im Umgang mit Sachverhalten und Themen abzulegen und mit der Gründlichkeit ans Werk zu gehen, die die Naturwissenschaften (und übrigens auch die unterschiedlichen Begabungen) erfordern. Nicht umsonst spiegelt die Gesellschaft (nicht nur bei uns) wieder, wie viel Unsicherheit sie umtreibt, wenn von der Anwendbarkeit, der Praktikabilität, der Sicherheit der dort registrierten Erkenntnisse die Rede ist. Volksbegehren und -entscheide sprachlicher Themen wegen sind weitgehend unbekannt. Im naturwissenschaftlichen Umfeld sind die Beispiele inzwischen Legion.

Dass aus meiner Bemerkung zum Thema Studienabbrecher eine Schlagzeile geworden ist, liegt an der Auswahlentscheidung der Redaktion. In der Landtagsdebatte war mein Statement die Schlussbemerkung unter der Überschrift: „Das Thema ist vielschichtiger als wir heute feststellen und behaupten.“ Dabei bleibe ich. Mathe, Physik, Chemie, Biologie, sie stehen oft für „Wahrheiten des Lebensalltags“, die nicht disponibel sind. Um so unbezweifelbarer muss der Unterricht in diesen Fachbereichen von Anfang an daherkommen. Und umso penibler bestehen die Kolleginnen dort zu Recht darauf, dass Gründlichkeit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit dafür sorgen, dass die Zahl der Irrtümer klein bleibt. Als Lehrkraft solchem Anspruch auf der ganzen Linie zu genügen, ist nicht einfach und nicht selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, dass die Persönlichkeiten halten, was die Ergebnisse eines Studiums zum Lehrereinsatz freigeben. Auch da liegen die Messlatten hoch, die immer mehr Eltern gerne den Lehrer in ihrer Idealvorstellung so sein lassen wie sie selbst es sein müssten…

Ich hoffe und wünsche mir, dass Sie meine Argumentation nachvollziehen, die viel differenzierter daherkommt als es der platte Zeitungssatz vermuten lässt, der zwar wiedergibt, was ich gefordert, nicht aber, was ich  gesagt habe.

Das Gespräch zur Vertiefung, das Sie anbieten, scheue ich nicht, im Augenblick auch angesichts der postalischen Arbeit die Zeit, die es kostete. Nicht in jedem Fall leiht es sie in solchem Umfang, wenn ich auf Nachfragen antworte. Bemüht, da korrekt und entgegenkommend, auch verständnisvoll zu sein und zu bleiben, bin ich. Lehrer sind so, vielleicht manchmal auch zu fertig mit ihrem Urteil. Dafür erbitte ich Ihr Verständnis.

Mit freundlichem Gruß

Ihr

Dr. Thomas Goppel, MdL

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