(Es gilt das gesprochene Wort)
„Wir sind das Volk“ – nun auf Arabisch
Ruf von Leipzig
„Wir sind das Volk“ – das war 1989 der Ruf der Montagsdemostrationen. Von der wunderbaren Nikolaikirche zogen die Menschen durch Leipzig, und ihr Ruf wurde in vielen Städten der DDR aufgenommen. Es war der Ruf nach Freiheit, demokratischer Mitgestaltung und schließlich nach der Einheit Deutschlands.
Fall der Mauer
Dieser gewaltlose, trotzdem gewaltige, überwältigende Widerstand mündete in jene unvergessliche Nacht des 9. Novembers 1989, als die Mauer fiel und das unselige Erbe des schrecklichsten Krieges in der Geschichte der Menschheit damit überwunden war – die Spaltung Deutschlands und die Spaltung Europas.
20 Jahre Einheit
Im letzten Jahr konnten wir schon die zwanzigste Wiederkehr dieses glücklichen Augenblicks der Deutschen, deutscher und europäischer Geschichte, den Beginn einer Ära der Freiheit und Demokratie für ganz Deutschland und – rasch aufwachsend – für fast ganz Europa feiern.
Arabischer Frühling
„Wir sind das Volk“ – so ähnlich, allerdings auf Arabisch, schallt es nun auch rund um das Mittelmeer.
Über Jahrzehnte waren der Nahe und Mittlere Osten, ebenso Nordafrika von autoritären und korrupten, dabei überaus stabilen Regimen beherrscht. Deren Stabilität war durch Herrscher symbolisiert, die seit zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahren an der Macht waren, wie Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Gaddafi in Libyen.
Fanal und Flächenbrand
Mitte Dezember 2010 ändert sich das schlagartig, als sich in Tunesien ein junger Mann verbrennt, weil er keine Lebensperspektive mehr für sich sieht. Seinem Fanal folgen Massenproteste.
Was in Tunesien beginnt, weitet sich wie ein Flächenbrand über viele Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens aus.
Ben Ali flieht Mitte Januar 2011 aus dem Land.
Knapp einen Monat später tritt Präsident Mubarak zurück.
Libyen fällt in einen Bürgerkrieg, in den die NATO eingreift und der nach einer Eruption der Gewalt mit dem Tod des Diktators geendet hat.
„Wiedererlangen der arabischen Würde“
Die Forderungen der Menschen sind von Land zu Land verschieden, haben aber doch eines gemeinsam: In ihnen verbinden sich politische, soziale und wirtschaftliche Anliegen.
„Vom Wiedererlangen der arabischen Würde“
hat ein bekannter marokkanischer Autor sein Buch über den „Arabischen Frühling“ überschrieben. Ein guter und treffender Titel, der beschreibt, wofür die Menschen auf die Straße gegangen sind: Selbstbestimmung, Emanzipation, Freiheit von Bevormundung, Teilhabe an Wachstum und Entwicklung.
Wahl einer islamistischen Partei
Erst vor drei Wochen haben die Tunesier mehrheitlich eine islamistische Partei gewählt. In Ägypten dürfte Ähnliches wohl bevorstehen. Es nimmt nicht wunder, dass das bei uns die Furcht weckt, dass von dieser arabischen Revolte zum Ende hin die radikalen Islamisten profitieren, dass also der „arabische Frühling“ rasch in einen „arabischen Herbst“ oder „arabischen Winter“ umzuschlagen beginnt.
Islamische Identität
Guter Rat vor Ort mahnt uns, da zu differenzieren. Die islamischen Bewegungen sind von Land zu Land höchst unterschiedlich. Die islamistische Partei in Tunesien beispielsweise tritt sehr moderat an.
Grundsätzlich aber wird dort, wo das Volk nun zu Wort kommt, auch die Identität des Volkes stärker deutlich werden, und die ist eben mehrheitlich vom Islam geprägt.
Gegenbild der Diktatur
Darüber hinaus ist die islamistische Bewegung in den arabischen Ländern eine Gruppierung, die sich von den alten Diktaturen nicht korrumpieren hieß.
Sie ist für das Volk das nahezu vollständige Gegenbild der zuvor herrschenden Tyrannen, unter denen die Clan- und Cliquenwirtschaft grausame Urstände feierte und die landesweite Armut totgeschwiegen wurde.
Schutzraum der Religion
Denken wir – bei aller gebotenen Differenzierung – nur an das Ende der DDR. Dort war es die evangelische Kirche, die – etwa mit der Nikolaikirche in Leipzig – den räumlichen und ideellen Schutz geboten hat, in dem sich der Widerstand gegen die Diktatur finden und ihn auch formulieren konnte. Der Glaube als Gegenwelt und Rückhalt gegen politische Diktaturen – ein solches Rezept ist nicht per se schlecht und dafür sollten wir zunächst Verständnis und Sympathie aufbringen wollen.
Schutz der Menschenrechte
Auf der anderen Seite aber müssen wir versuchen mitzuhelfen, dass in den revoltierenden arabischen Staaten radikale islamistische Vorstellungen den mutigen Schritt in die Moderne und in die Demokratie nicht wieder zunichtemachen, und dass mit der Demokratie auch die sie begründenden und tragenden Menschenrechte, wie Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlung, die Rechte der Frauen oder die Rechte von Nicht-Muslimen gewahrt werden.
Kumpanei mit den alten Diktatoren
Die Europäische Union muss auf ihre südlichen Nachbarn zugehen. Sie muss sich ihnen öffnen und auch Verständnis dafür zeigen, dass sie sich in der Vergangenheit lange, viel zu lange mit den alten Diktatoren arrangiert haben.
Die Stabilität dieser autoritären arabischen Regime haben schließlich auch die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten lange als das kleinere Übel im Vergleich zu den unberechenbaren Islamisten betrachtet und eingeschätzt. Darum haben wir selbst lange mit zweierlei Maß gemessen. Wir haben fest angenommen, dass in Weißrussland oder in der Ukraine Demokratie für Stabilität sorgt, während wir gleichzeitig zu fürchten Anlass sahen, dass sie in Nordafrika Chaos und Terror bringt – an die tiefe Kränkung der Menschen, die das im Süden ausgelöst hat, dachte dabei kaum einer.
Strategie der Zusammenarbeit
Die EU muss auch ihren Nachbarn im Süden helfen, wirtschaftliche Stabilität, politische Modernisierung und Demokratisierung zu verbinden.
Das beginnt mit der Hilfe beim Aufbau politischer Parteien und Strukturen und reicht bis hin zu intensiver wirtschaftlicher Zusammenarbeit.
Europa braucht eine Strategie, die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Entwicklung und eine gerechte Verteilung des Erwirtschafteten sichern hilft.
Sacharow-Preis
Das Europa-Parlament hat einen ersten Schritt schon getan. Es hat seinen „Sacharow-Preis für Menschenrechte und Meinungsfreiheit“, der im Dezember in Straßburg verliehen wird, diesmal an fünf Preisträger verliehen, die für den “Arabischen Frühling“ stehen.
Ausgezeichnet wurden eine ägyptische Jugendaktivistin, ein libyscher Dissident, eine syrische Rechtsanwältin und ein syrischer Karikaturist.
Posthum geehrt wurde auch der Tunesier Bouazizi, der sich Ende 2010 selbst verbrannt hat und dessen Tod die wochenlangen Proteste in Tunesien und schließlich den Sturz des Diktators Ben Ali ausgelöst hat.
Geschenk an die Welt – Vorbild für die Welt
Der „Arabische Frühling“, wie ihn alle Welt nennt, entlehnt seinen Namen und sein Ziel dem „Prager Frühling“. Der Sturz der kommunistischen Regime in Europa, der Aufbau von Demokratien und die Integration der ehemals kommunistischen Staaten in das freie, demokratische Europa ist Vorbild für die Welt geworden.
Welle der Demokratisierung
Seit der portugiesischen „Nelkenrevolution“ und dem Ende der Diktaturen in Griechenland und Spanien, als den letzten Diktaturen Westeuropas, läuft eine Welle der Demokratisierung um die Welt, die beispiellos in der Geschichte ist.
Diese Demokratisierungswelle, die in den 70-er Jahren in Europa entstand, hat in den 80-er Jahren Lateinamerika erfasst, danach Ostasien erreicht, im Anschluss die kommunistischen Regimes Osteuropas, schließlich Länder Afrikas und nun auch den arabischen Mittelmeerraum.
Demokratie europäisches Erbe
Der Gedanke und das Konzept der Demokratie sind untrennbar mit Europa verbunden. Er ist ein Geschenk Europas an die Welt. Demokratie ist wesentlicher Bestandteil des gemeinsamen europäischen Erbes, auf das wir uns zu Recht berufen und stolz darauf sein dürfen, dass unsere Ahnen lernfähig waren und blieben.
Ihre Tradition reicht bis zu den Stadtstaaten der griechischen Antike zurück.
England steuerte die „Mutter der Parlamente“ bei, und die Französische Revolution hat das Fundament der modernen Version der Volksherrschaft, der Demokratie grundgelegt, bis hin zu den Bezeichnungen „Links“ und „Rechts“.
Glückliches Geschenk
Welch glückliches Geschenk diese Demokratie sein kann und, im richtigen Zeitfenster genutzt, ist, durften wir selbst erleben, als die eigene friedliche Revolution die Diktatur überwand und den Weg zur Einigung Deutschlands öffnete.
Christlichen Wurzeln
Dem christlich-sozialen Politiker bitte ich nachzusehen, dass er daran erinnert, dass diese Entwicklung in Europa christliche Wurzeln hat.
Diese Werte sind, Papst Benedikt XVI. hat das vor zwei Jahren betont, als er dem Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zu seiner Wiederwahl gratulierte, „Frucht einer langen und verwickelten Geschichte, in der – wie keiner leugnen wird – das Christentum eine herausragende Rolle gespielt hat“.
Und er fuhr damals fort:
„Die Gleichheit aller Menschen, die Freiheit des Bekenntnisses als Wurzel aller anderen bürgerlichen Freiheit, Friede als entscheidendes Element des Gemeinwohls – das sind alles zentrale Elemente der christlichen Offenbarung, die die europäische Zivilisation auch weiter prägen.“
Frieden und Freiheit für ganz Europa – Willy Brandt
Letztes Jahr konnten wir das wunderbare Jubiläum der Wiedervereinigung feiern.
Am Tag nach dem Fall der Mauer hat Willy Brandt damals den denkwürdigen Satz gesagt:
„Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“.
Zusammenwachsen Europas
Er hat damals „nur“ Deutschland gemeint und – nicht zu vergessen – nicht wenigen seiner Genossen damit Paroli geboten. Aber nicht nur Deutschland hat da begonnen zusammenzuwachsen, auch Europa war zeitgleich in Bewegung geraten, um zusammenzurücken.
Ende der Tyrannei
Unser geteilter, im Osten damals im Eis der Ideologie erstarrter Kontinent, begann sich zu bewegen. Millionen, so wie es in diesen Tagen den Tunesiern und Ägyptern ergeht, packte der Wunsch nach Freiheit und riss sie mit. Sie schüttelten die Tyrannei ab. Die lange Suche nach Eigenständigkeit und einem Ende der Bevormundung fand mit der Freiheit auch den Weg nach Westen, zur Gemeinsamkeit und nach Europa.
Erwachen des alten Mitteleuropas
Schritt für Schritt sind die neuen alten Nachbarn auch Mitglieder der europäischen Gemeinschaft geworden. Alte Brücken wurden neu geschlagen, alte Verbindungen wiederbelebt. Wo ein tiefer Graben gewesen war, entfaltete sich langsam wieder das tausend Jahre alte Mitteleuropa, mit seiner Vielfalt an Sprachen und Kulturen.
Kapitel nicht abgeschlossen
Noch ist dieses Kapitel längst nicht abgeschlossen. Noch stehen sieben westliche Länder des Balkans vor der Schranke des Gemeinschaftsplatzes und ringen um ihre europäische Zukunft.
Erinnern an den Anfang
Sicher tun wir ihnen Unrecht, wenn wir ihnen lediglich den Drang an die Fleischtöpfe des reichen Europas unterstellen.
Bei solchem Anlass erinnern wir uns besser selbst daran, was am Anfang der Europäischen Union stand:
Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit seinen immensen Zerstörungen, der Vernichtung einer auch damals weltoffenen, wenn auch an Nationalismen gefesselten Welt. 1945 war es der Frieden, der die Gründerstaaten und –staatsmänner auf den Plan rief, war es nicht das Geld.
Wiedervereinigung unter dem Dach Europas
Auch die Wiedervereinigung, den besten Teil unserer Geschichte, danken wir der europäischen Einigung, der Unterstützung des freien Europas und unseren Freunde jenseits des Atlantiks. Als sich die Möglichkeit einer deutschen Einigung eröffnete, haben unsere westlichen Freunde dafür gesorgt, dass ein vereinigtes Deutschland sich im westlichen Bündnis, in der Europäischen Union und in der NATO verankern konnte.
Hafen der Freiheit
Das Geschenk des vereinten Deutschlands ist aufs Engste mit der Einigung Europas verbunden.
Ähnliches galt für Griechenland, Spanien und Portugal. Nach dem Ende ihrer Diktaturen war ihnen die europäische Gemeinschaft Garant für inneren und äußeren Frieden, ein sicherer Hafen des Wohlstands und der Freiheit.
Ende der letzten Bürgerkriege
Auch die restlichen Balkanländer wollen mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union heutzutage das endgültige Ende der letzten Bürgerkriege in der langen Geschichte Europas sichern.
Die europäische Geschichte ist die Geschichte lang anhaltender Bürgerkriege. Die letzten ihrer Art haben sich erst vor kurzem direkt abgespielt, vor unseren Augen. Diese Geschichte der Bürgerkriege wollen die Menschen endlich in den verlässlichen Frieden der Europäischen Union münden sehen. Das gilt auch dann, wenn in unseren Tagen mehr und vorrangig vom Geld und seiner Sprengkraft die Rede ist.
Widerstand gegen Aufnahme
Und: Nicht überall trifft solche Erwartungshaltung auf Sympathie. Die Bitte um weitere Aufnahme weckt nur eingeschränkt Begeisterung. Solche Blockaden gegenüber Kroaten und anderen wollen eingedämmt und abgebaut sein.
Hoffnungsträger Deutschland
Die Hoffnung der Europäer in spe ruht dabei gerade auch auf den Deutschen, weil sie als geteilte Verlierer des Zweiten Weltkriegs es geschafft haben, vorzuführen, dass man auf dem Weg in die Gemeinschaft sogar zwei Hürden auf einmal schafft. Dem Kroatien aus dem einstigen jugoslawischen Zwangsverband sollte das vorenthalten bleiben, weil da auf einmal wieder alte Reserven greifen?
Beitrittsbedingungen zu erfüllen
Selbstverständlich müssen die Bewerberländer alle Beitrittsbedingungen für den EU-Beitritt erfüllen. Aber die Länder dieser Regionen haben es auch verdient, dass wir ihnen dabei helfen, einen, ihren geeigneten Weg nach Europa zu finden.
Die Erinnerung wachhalten – Verdämmernde Erinnerung
Sie gehören schließlich auch in den kontinentalen Verbund, der dank der ausgestreckten Hand der westlichen Siegermächte aus den die Zerstörungen des Krieges, mit seinen Toten und dem Leid der Hinterbliebenen, zur Versöhnung und zum Bau dieses großen Friedenswerks einer Einigung gefunden hat, sich auf Dauer für Gemeinschaft statt babylonische Verwirrung entschieden hat.
Heute müssen wir uns aber eingestehen:
Diese Erinnerung an die Anfänge des geeinten Europas beginnt zu verblassen, wie die Farben eines Aquarells, das zu lange der Sonne (der Freiheit, Sicherheit und des Wohlstandes) ausgesetzt war.
Nachkriegsgeneration
Rund 80% der deutschen Bevölkerung sind heute unter 66 Jahre alt, sind also nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Ihre bewussten Erinnerungen beginnen bestenfalls in den fünfziger Jahren. Für die Jugend heute ist der Zweite Weltkrieg fast soweit weg wie der Dreißigjährige Krieg für uns alle. Schon für die Nacht des 9. November 1989 macht sich das heute wieder bemerkbar.
Kein selbstverständliches Glück
Welch glückliche Generation!? Wir bemerken im Wissen darum, dass Glück nicht selbstverständlich ist. Immer wieder müssen wir uns das ins Bewusstsein rufen. Sich dabei an Bertrand Russell, den walisischen Philosophen der Nachkriegszeit zu erinnern, tut ein übriges:
„Unbedingt mit zum Glück gehört es, manches, was man möchte, nicht zu haben!“
Auch Verzicht kann Glück bedeuten, lehrten uns eben erst die Rechenfehler im Hause Schäuble in Berlin.
„Götterdämmerung“
Vielleicht gelingt das auf Umwegen in andere Kapitel unseres gemeinsamen Werdegangs die Geschichte?
Wir haben heuer mit einer großen Landesausstellung an den 125. Todestag von König Ludwig II. erinnert. Diese Landesausstellung „Götterdämmerung“ wurde ein gewaltiger Erfolg. Etwa 570.000 Besucher hat sie auf die Insel und ins Schloss Herrenchiemsee gelockt. Sie war damit die erfolgreichste Landesausstellung, die es je in Bayern gegeben hat. Nach der großen Staufer-Schau in Stuttgart von 1977 ist sie inoffizieller deutscher Vize-Meister der historischen Ausstellungen.
Dinkelsbühl und Ludwig II.
Ob sie auch einige Dinkelsbühler angezogen und begeistert hat, obwohl die alte freie Reichsstadt Dinkelsbühl ja erst 1806 und nicht ganz freiwillig an Bayern gefallen ist? Vielleicht haben die Dinkelsbühler ja darum ein etwas distanzierteres, fränkisch-nüchternes Verhältnis gerade zu unserem Märchenkönig?
Hunderttausende fasziniert
Wie auch immer: Diese Gestalt Ludwig II. und die Landesausstellung „Götterdämmerung“ haben viele Hunderttausende fasziniert, auch viele Freunde und Ausländer.
Für die Franzosen musste die französische Fassung des Katalogs und der Flyer nachgedruckt werden.
Politische Tragödie
In dieser Ausstellung wurde nicht nur die persönliche Tragödie des Königs in Bilder, Texte und Ausstellungsstücke gebannt. Auch die politische Tragödie jener Zeit scheint auf.
Krieg von 1866
Zwei Jahre nachdem Ludwig König geworden war, steht Bayern an der Seite Österreichs und des Deutschen Bundes mit Preußen im Krieg. Wenige Monate später ist alles vorbei. Die preußische Armee besiegt die österreichische bei Königgrätz. Und sie marschiert in Bayern ein.
Weg in den kleindeutschen Nationalstaat
Mit dem Ende dieses Krieges von 1866 sind alle Hoffnungen auf einen föderalen, großdeutschen Staatenbund zerstoben, in dem die beiden Großmächte Österreich und Preußen, aber auch Mittelstaaten wie Bayern ihren gleichberechtigten Platz gehabt hätten. Der Weg in den kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Hegemonie ist vorgezeichnet.
Krieg zwischen Bayern und Preußen
Ein Krieg zwischen Bayern und Preußen: Das ist für uns heute so unvorstellbar, dass wir fröhlich darüber Witze machen:
„Das waren noch Zeiten, als man auf Preußen schießen durfte“.
Aber das, worüber wir heute schmunzeln und lachen, war damals kein Witz, sondern tödliche, traurige Realität. Davon zeugen in unseren Dörfern und Kommunen die Kriegerdenkmäler mit ihren langen Listen der Gefallenen.
Krieg von 1870
Wenige Jahre nach diesem deutschen Bruderkrieg von 1866 provoziert Bismarck den europäischen Bruderkrieg gegen Frankreich von 1870, mit dem er endgültig den Weg in den kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Pickelhaube vorbereitet.
Untergang des souveränen Bayerns
Diese beiden Kriege und ihre Folgen, der Untergang des souveränen Bayern, wurden zum tiefen Trauma für König Ludwig:
„Wehe, dass gerade ich zu solcher Zeit König sein musste…“
und
„die Folgen von 70 und 71 verbittern mir die Existenz“.
Erster Weltkrieg
Wir dürfen es nicht verdrängen: mit dem 70-er Krieg wurde eine tiefe „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich begründet.
Sie mündete in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, mit seinen über neun Millionen Toten, davon über 500.000 in der Zivilbevölkerung.
2. Weltkrieg
Aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs erwuchsen dann die drei totalitären Monster des 20. Jahrhunderts – Kommunismus, Faschismus und der Nationalsozialismus. Letzterer setzte im Zweiten Weltkrieg die ganze Welt in Brand. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.
27 Millionen Opfer unter den Soldaten und 25 Millionen unter der Zivilbevölkerung hat dieser Weltenbrand gefordert hat; dabei ist die Schreckensbilanz eine noch viel größere: 6 Millionen Juden, die durch die Mörder der deutschen Diktatur starben, füllen die Schreckensbilanz der Völkermorde dramatisch und führen sie an.
Zweiter Dreißigjährige Krieg
Der französische Publizist und Philosoph Raymond Aron hat diese Jahre von 1914 bis 1945 als neuen dreißigjährigen Krieg bezeichnet. Dieser zweite Dreißigjährige Krieg hat unserem Volk und der Welt schreckliche Wunden geschlagen. Sie übersteigen alles, was Menschen begreifen können und wollen. Rechnet Aron richtig auf oder gar schön, was die Realität aufzuaddieren vorschreibt?
Erste Hälfte: Kriegsfurie
Lassen Sie uns dafür die 125 Jahre unseres König-Ludwig-Jubiläums zurückrechnen:
In der ersten Hälfte dieser 125 Jahre haben wir einen deutschen Bruderkrieg, einen europäischen Bruderkrieg und zwei Weltkriege mit Abermillionen von Opfern, zerstörten Städten und Ländern und anschließend eine Teilung der Welt im bedrohlichen Spannungsfeld eines Kalten Krieges.
Zweite Hälfte: Frieden
In der zweiten Hälfte dieses 125-Jahre-Jubiläums hingegen haben wir Frieden im westlichen Teil Europas und eine Entwicklung der Demokratie und der Wirtschaft, deren Strahlkraft den kalten Krieg und die Teilung Europas auf Dauer überwindet.
Das ist eine historische Gesamtbilanz, die erinnert, geschützt und weiter getragen werden muss, um der Zukunft willen, aber auch um des Gedenkens an die Toten, die den Kriegen zuerst zum Opfer gefallen waren. Ist da eine Aufteilung in Leistung und Versagen nötig? Nein!
Wir ehren am besten unsere Vorahnen in Europa, indem wir Frieden in Europa jetzt langfristig, vielleicht sogar endgültig sichern.
„Mare nostrum“ – Europäische Union in der Kritik
Wir wissen alle, dass die Mehrzahl unserer Bürger die Europäische Union in diesen Tagen äußerst kritisch sieht. Die Menschen sorgen sich angesichts der dramatischen Krise der Staatsfinanzen in vielen Mitgliedsstaaten und der Bedrohung durch gigantische, unkalkulierbare Märkte um ihre Zukunft, die auch die Zukunft Europas ist.
Sorge um Europa
Das sollte man nicht als mangelnden Sinn für Europa oder Mangel an Solidarität denunzieren, sondern als tiefe Sorge um Europa selbst werten.
Unsere Bürgerinnen und Bürger wissen sehr wohl, wie viel sie dem Projekt der Europäischen Einigung
verdanken, und sie sehen gerade dieses Projekt in der heutigen Krise gefährdet.
Jüngster EU-Gipfel
Wir können nur hoffen, dass mit dem jüngsten Gipfel die europäischen Staaten in den zentralen Punkten einen entscheidenden Durchbruch erzielt haben und dass sowohl das Problem der überschuldeten Staaten wie die grundlegenden Defizite in der Wirtschafts- und Währungsunion, die sich in der Krise gezeigt haben, überwunden werden können und, dass wir uns an Aufrichtigkeit von Anfang an und allenthalben zu gewöhnen verpflichtet sind.
Auch die Zähmung des globalen Finanzmarkts scheint voran zu kommen. Der Versuch, den Banken virtuelle Monopoly-Spiele auszutreiben, mit denen sie sich von der Real-Wirtschaft weit entfernen, ist gestartet und sollte erfolgreich sein.
Wider die wehleidige Larmoyanz
All das ist gewiss schwierig. Es wird vor allem den überschuldeten Staaten und ihren Bürgern noch große Opfer abverlangen.
Alle berechtigte Sorge sollte uns aber nicht in wehleidiger Larmoyanz untergehen sehen. Zuviel davon hat sich bei uns in Sachen Europa in der letzten Zeit breit gemacht.
Auch und gerade in dieser weltweiten Finanzkrise gibt es wohl nur ganz wenige Länder auf der Welt (mit ihren gerade sieben Milliarden Menschen), die nicht sofort und auf der Stelle mit der Europäischen Union, mit den Euro-Staaten oder gar mit Deutschland oder dem Freistaat und Dinkelsbühl wirtschaftlich, finanziell oder sozial tauschen wollten. – Für Depression kein Anlass oder doch?
Gesamteuropäisches Projekt
Wie überwinden wir diese Europa-Depression? Am besten durch ein gemeinsames, begeisterndes gesamteuropäisches Projekt, das gerade auch junge Menschen wieder für Europa motiviert und mobilisiert.
Ein solches Projekt liegt vor unserer Haustür, im Süden, am südlichen Ufer des Mittelmeers, das die Römer einmal „mare nostrum“, unser Meer, genannt haben. Was hindert uns heute, es als unser Meer, als unseren Verantwortungsbereich zu verstehen und zu begreifen?
Go South
Was läge für Europa, vor allem für seine „Südstaaten“, von Spanien über Italien bis Griechenland, die nach Feldern einer wirtschaftlichen Erholung suchen, näher, als den Kontakt zu den anderen mittelmeerischen Anrainern aufzunehmen?
Warum sollten Jugendliche und junge Erwachsene dieser „Südstaaten“ sich nicht mit Sympathie dem demokratischen Aufbruch im gesamten Mittelmeerraum zuwenden und gemeinsam mit ihren Gleichaltrigen von dort neue Wege der Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Zukunft erkunden und zu erschließen?
Solarenergie Nordafrikas
Wo stoßen wir auf Herausforderungen dieser Art? Aufgaben für alle? Verzeihen Sie einem ehemaligen Umweltminister den Hinweis, dass in der dringend gebotenen Energiewende gewaltige energie-, sondern auch wirtschafts-, europa- und umweltpolitische Potenziale schlummern (besser: köcheln). Zur Nutzung südlich des Mittelmeers liegt im Sand der Sahara nicht nur Erdöl. Darüber strahlt dauerhaft und bislang völlig ungenützt eine nie von Wolken verhangene, intensive Sonne.
Von der Wirtschafts- zur Friedensgemeinschaft
Ist eine kleine, überwölbende Vision erlaubt?
Die Europäische Union hat ihren Ursprung in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und dann in der Euratom. Aus der Wirtschaftsgemeinschaft um die Nutzung der Energie sind dann die europäische Friedensgemeinschaft und schließlich die Europäische Union gewachsen.
Energiepartnerschaft auf Augenhöhe
Aus einer das Mittelmeer überspannenden Nutzung der Solarenergie, einer Energiepartnerschaft zwischen Europäern und Arabern auf Augenhöhe, muss nun keine „Mittelmeerunion“ erwachsen.
Aber aus unserer Geschichte seit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wissen wir, dass Versöhnung, Freiheit, Demokratie und wirtschaftliche Zusammenarbeit, kurz: eine gemeinsame Kultur dynamischer und solider Nachbarschaft, die Triebkräfte der europäischen Friedensordnung waren.
Botschaft der Versöhnung und Demokratie
Diese Botschaft der Versöhnung und der Demokratie ist auch die beste Botschaft, die Europa heute der Welt bieten kann, vor allem den Menschen rund um das Mittelmeer, die heute – wie wir, respektive unsere damals hungrigen Landsleute östlich des Eisernen Vorhangs gestern – rufen:
„Wir sind das Volk“.
Diesen Menschen können wir sagen:
Wir verstehen Euch über alle Barrieren der Sprache und Kulturen hinweg.
Ihr habt recht. Wir durften es selbst erfahren und werden es mit Eurer Hilfe nicht vergessen.
Wir werden Euch helfen,
in Eurem,
in unserem Interesse,
im Interesse des Friedens rund um das
„mare nostrum“
– um unser gemeinsames Gut, das Mittelmeer.
Rede von
Dr. Thomas Goppel, MdL, Staatsminister a.D.
Gedenkstunde zum Volkstrauertag
„Wir sind das Volk!“
Dinkelsbühl, am 13.11.2011