Rede „Heimat als europäisches Programm“

15.10.2011 in Reden. Kommentare deaktiviert für Rede „Heimat als europäisches Programm“.

(Es gilt das gesprochene Wort)

Europa in der Krise – Wenig Heimatgefühl

„Heimat als europäisches Programm“ – mit diesem Thema haben Sie mir einen alles andere als einfachen Auftrag zur Bearbeitung und Darstellung übertragen. Oder empfinden Sie angesichts der täglichen Szenarien, die wir zu lesen und zu verdauen kriegen, Europa in diesen Tagen als sehr heimelig und heimatlich? Alles, was ich dazu zu hören kriege, klingt mir nicht danach. Und es ist nirgends zu entdecken, dass Geschriebenes viel zuversichtlicher klänge.

In der aktuellen öffentlichen Diskussion, in jeder Talkshow und an jedem Stammtisch, werden heute Töne angestimmt, die wir schon lange als ad acta gelegt empfunden haben.

Gut, wenn es ums Geld geht, wird überall, auch in jeder Familie der Ton etwas härter.
Und doch und darüber hinaus: Die Europäische Union scheint heute nur noch bei sehr wenigen Bürgern Heimatgefühle zu wecken.

Ja zu Europa
Natürlich gilt es, bei solchen Allgemeinplätzen nicht zu bleiben, sondern zu differenzieren. Alle Umfragen zeigen, dass die Bürger „Ja“ zu Europa sagen, sich dafür aussprechen, dass die europäischen Länder vor dem Hintergrund der Schuldenkrise in den nächsten Jahren noch enger zusammen rücken und ihre Politik stärker verzahnen sollten.

Gegen Rettungsschirm
Trotz des Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich da dokumentiert, lehnen nach jüngsten Umfragen zwei Drittel der Deutschen den erweiterten Rettungsschirm ab, gehen auf Distanz zu den Schuldnerstaaten und wollen die Hilfe, die Europa dafür anbietet, nicht leisten.

Sinkende Wahlbeteiligung
Der Alarmzeichen ist es damit aber nicht genug: Noch mehr als diese emotionale, der aktuellen Krisensituation geschuldete Distanzierung bewegt ein anderes Warnzeichen, das sehr wohl auf Entfremdung, zumindest auf eine fehlende Beheimatung der Menschen in Europa aufmerksam macht: Die dramatisch sinkende Beteiligung an den Wahlen zum Europa-Parlament. Auch sie steht nicht isoliert, aber sie gibt zu denken.

Wahl ohne Wähler
Seit den ersten Europa-Wahlen im Jahr 1979 nimmt die Wahlbeteiligung ständig ab.

  • Damals, vor dreißig Jahren, haben in Deutschland noch fast 66 Prozent der Wahlberechtigten gewählt.
  • Bei der letzten Wahl 2009 waren es nur mehr 43 Prozent.
  • In einigen Staaten Osteuropas halbiert sich dieses Datum, waren es nur noch gute 20 Prozent, die abgestimmt haben – eine Wahl ohne Wähler?

Erlöschen der Leidenschaft
Worin gründet dieses Desinteresse? Weshalb ist die Leidenschaft für die europäische Idee erloschen, die die ersten Jahrzehnte der europäischen Einigung, auch die ersten Wahlen bestimmt hat?

Noch nicht zu Hause in Europa
Woran liegt es, dass das visionäre Projekt der Einigung Europas, das nach dem Weltkrieg eine kleine Schar Weitsichtiger unter den Politikern aktiv werden ließ und das eine historisch beispiellose Erfolgsgeschichte auslöste, eine, die zu einem grandiosen Friedens- und Versöhnungswerk , auch zu einer wirtschaftlichen Weltmacht den Grundstein legte, im Herzen der Bürger noch immer nicht als Ort der Beheimatung angekommen ist, ein Platz, der ihm Geborgenhit verheißt und an dem er sich aller Größe zum Trotz geborgen und aufgehoben weiß, heimisch fühlt?

„Götterdämmerung“
Festschrift „Bayern – Deutschland – Europa“
Vielleicht hilft ein kleiner Blick zurück in unsere Geschichte. Der große bayerische Historiker Karl Bosl hat in der Festschrift „Bayern – Deutschland – Europa“, die im Oktober 1975 zum 70. Geburtstags meines Vaters herausgegeben wurde, sich auch mit diesen Fragen befasst. In seinem Beitrag „Bayern im Kraftfeld europäischer Geschichte“ hat er vor 36 Jahren auf Parallelitäten und Zusammenhänge der Einigung Deutschlands und der Einigung Europas im 19., beziehungsweise im 20. Jahrhundert verwiesen.

König Ludwig II.
Wir erinnern heuer an den 125. Todestag von König Ludwig II., des „einzig wahren Königs des Jahrhunderts“, wie Paul Verlaine ihn genannt hat.

Dessen großes Trauma war, dass mit ihm das alte souveräne Bayern untergehen könnte :
„Wehe, dass gerade ich zu solcher Zeit König sein musste“.

Kaiserproklamation von 1871
Mit dem deutschen Bruderkrieg von 1866 gegen Österreich – auch den Deutschen Bund und damit ebenso gegen Bayern -, zusätzlich mit dem europäischen Bruderkrieg von 1871 gegen Frankreich hatte Bismarck den Weg in den kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Hegemonie vorbereitet. Am 18. Januar 1871 wird dann im Land des besiegten Feindes Frankreich das „Zweite Deutsche Reich“ mit dem preußischen König als deutschem Kaiser proklamiert.

Königsherrschaft der Phantasie
Dieser Welt, in der Bayern und sein König Schritt für Schritt an politischer Souveränität verlieren, dieser „Götterdämmerung“ also – wie die große Ausstellung in Herrenchiemsee heißt -, stellt Ludwig die Traumwelt eines wahren Königtums entgegen.

Je mehr sein Königtum an exekutiver Macht verliert, desto mehr versucht er eine neue, andere Königsherrschaft der Phantasie, der Ideen und Illusionen zu begründen.

Redeschlacht im Landtag
In den Tagen vor der Kaiserproklamation von 1871 in Versailles tobt in der Zweiten Kammer des Bayerischen Landtags eine zehntägige Redeschlacht: Gefragt und gerätselt wird, ob das Königreich Bayern selbständig bleiben oder Teil des neuen Deutschen Reiches werden soll?

Sorgen und Warnungen
Die „Reden verfassungstreuer Patrioten in den Bayerischen Kammern über die Versailler Verträge“, die damals per Flugschrift im ganzen Bayerischen Königreich verteilt werden, lesen sich heute bewegend und beunruhigend seherisch. Im Rückblick wissen wir nur allzu gut, wie berechtigt schon oder gerade die damaligen Warnungen vor Gründung dieses neuen Staates waren.

„Finis Bavariae!“
„Finis Bavariae!“ schrieb am 21. Januar 1871 der frühere Ministerratsvorsitzende Bayerns, der Freiherr Ludwig von der Pfordten, in sein Tagebuch, als die Mehrheit des Bayerischen Landtags nach langer und heftiger Diskussion sich doch für die Annahme der Verträge entschied:

„Vor 78 Jahren haben die Franzosen ihren König ermordet; heute haben die Abgeordneten Bayerns ihren König und ihr Land unter die preußische Militärherrschaft mediatisiert .“

Versailles und Maastricht
Natürlich sind „Versailles“ und „Maastricht“ nicht zu vergleichen. Der erste kleindeutsche Nationalstaat, das preußisch dominierte deutsche Kaiserreich endete nach 47 Jahren in der Katastrophe des 1. Weltkriegs. Der Weg zur Einheit Europas hingegen hat uns eine Ära des Friedens beschert, die historisch in Europa ohne Beispiel ist.

Aber wenn wir die Ängste und Sorgen der Bürger in diesen Übergangszeiten – „Versailles“ und „Maastricht“ – betrachten, begegnet uns Ähnliches und Vertrautes: Schmerz des Verlusts von Gewohntem und Geliebtem, von eigener Selbständigkeit und Unabhängigkeit, von Verfügungsmacht über das Eigene und Ererbte.

Die Gefühle der Menschen in der „Götterdämmerung“ des alten Bayern waren die gleichen wie die der Menschen heute in der „Götterdämmerung“ der europäischen Nationalstaaten.

Bayern überlebt
Mancher Untergang allerdings erweist sich im Nachhinein als Übergang und Verwandlung. Das 1870/71 siegende Preußen ist verschwunden wie das dort er-oder gefundene Zweite Deutsche Reich.

Das damals „mediatisierte“ Bayern stattdessen lebt weiter, wenn schon nicht mehr als souveräner Staat, so doch als Land in Deutschland, als geliebte Heimat seiner Bürger und als bundesdeutsche Teilgröße, auf die die anderen weniger verzichten können als der bayerische Nukleus von damals.

Generationen-Studie 2009
Die Hanns-Seidel-Stiftung hat letztes Jahr eine große Studie über das Lebensgefühl in Bayern vorgestellt: „Generationen-Studie 2009 – Heimatgefühl und Leben in Bayern“. Die Studie dokumentiert, in welch hohem Maße sich die Befragten mit Bayern als ihrer Heimat identifizieren, sich ihr verbunden fühlen, ja stolz sind auf Bayerns Geschichte, Kunst und Kultur, seine herrlichen Landschaften, seine Traditionen und Bräuche.

Rund 140 Jahre nach Versailles wünscht sich fast jeder vierte Bayer den Freistaat (nach wie vor) als eigenen souveränen Staat. Fast einem Drittel der über 60-Jährigen wäre es sogar am liebsten, wenn Bayern ein eigener, souveräner Staat wäre.

Das Un-Wort Transferunion
Hans Maier
In dem Zusammenhang kommt mir der von allen im Land sehr verehrte und anerkannte ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier in den Sinn: Er hat – im Blick auf Frankreich und seine Regionen – geschrieben, dass ein Blick in die Geschichte zeige,
„dass oft die Inhalte nachkommen, wenn die Gehäuse vorhanden sind.“

Ähnliches sagt auch ein Wort eines italienischen Politikers, der die nationale Einigung Italiens von 1861, zehn Jahre vor Versailles (das 150-jährige Jubiläum dazu hat Italien heuer begangen) folgendermaßen kommentiert hatte:
„Wir haben Italien gemacht, nun müssen wir Italiener machen“.

Neapolitaner bleibt Neapolitaner
So einfach scheint das nicht zu sein. Auch in150 Jahren ist es nicht gelungen, aus Neapolitanern und Sizilianern Mailänder oder Römer zu machen. Und auch in Deutschland ist es 140 Jahre nach Versailles nicht gelungen, den Bayern ihren Stolz auf die Heimat auszutreiben.

Heimat kein Elite-Projekt
So wird mir keiner meine Zweifel, ob „die Inhalte nachkommen, wenn die Gehäuse vorhanden sind“, verübeln. Mit dem Aufbau einer staatlichen Organisation geht die automatische Identifikation mit diesem Staat nicht einher.

Ein Staat, der zu sehr Elite-Projekt ist und sich als solches versteht, birgt die Gefahr, dass er sich von den Bürgern entfremdet , bei ihnen eben nicht als vertraute, gewachsene, identitätsstiftende Heimat empfunden wird. Genau das, habe ich die Sorge, droht in Europa.

Wie aber lässt sich Gemeinschaftsgefühl und europäische Identität stiften, wie kann dann Heimat europäisches Programm für die unterschiedlichsten Teilhaber und Teilnehmer werden?

Streit um Schirm
Die Menschen sorgen sich heute angesichts der dramatischen Krise der Staatsfinanzen in vielen Mitgliedsstaaten, auch angesichts der Bedrohung durch gigantische, unkalkulierbare Finanzmärkte um die Zukunft des altehrwürdigen Kontinentes. Das sollte man nicht als einen Mangel an Solidarität denunzieren, stattdessen als tiefe Sorge um Europa selbst werten.

Die Bürgerinnen und Bürger wissen sehr wohl, was und wie viel sie dem Projekt der europäischen Einigung verdanken. Eben dieses Projekt sehen sie in der heutigen Krise gefährdet.

Europa mehr als Geld
Dort, wo Streit dominiert, wo wir hakeln, geht es in dieser Diskussion um Hilfe für die überschuldeten Staaten. Aber nicht richtig ist, dass wir dabei nur an Geld, die gemeinsame Währung denken. Europa ist sehr viel mehr als Geld. Beachten und berücksichtigen wir das nicht, hat die heutige Diskussion auch eine gefährliche Schlagseite:
Nicht nur für mich ist das Wort von der „Transfer-Union“ das „europäische Un-Wort des Jahres“.

Transfer-Union Europa
Denn was ist Europa – von seiner Geschichte, seinem Wesen und seinem Ziel her – anderes als eine gewaltige, wunderbare Transfer-Union?

Phönizischer Transfer
Es beginnt ja schon mit Europa selbst, diesem phönizischen Transfer, den Zeus höchst persönlich an Griechenlands Küste abgeliefert hat.

Papst in Berlin
In seiner großen Rede im Deutschen Bundestag hat der Papst auf die drei Wurzeln verwiesen, aus denen die Identität Europas erwachsen ist:
„Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“

„Dreifache Begegnung“
Diese „dreifache Begegnung“ meint einen dreifachen Transfer, der das eigentliche Wesen, das Glück Europas begründet.

Transferland Bayern
Das zieht sich durch unsere ganze Geschichte.
Nehmen wir nur unser Bayern:

  • nördliche Provinz Roms;
  • von Iro-Schotten missioniert;
  • dann selbst Träger der Mission in den Osten,
etwa der Grafen von Andechs von hier bis nach Meranien und Istrien;
  • der Passauer Stephans-Dom: Ausgangspunkt der Missionierung des Donau-Raums und Namensgeber für dessen Dome von Wien bis Esztergom;
  • Bayerische Gotik atmet den Geist Frankreichs;
  • Bayerische Renaissance und bayerischen Barock danken wir dem Transfer italienischer Künstler und dem Transfer südlicher Gemahlinnen für unser Herrscherhaus.

Man könnte (und sollte eigentlich) stundenlang aufzählen:

  • Der moderne Verfassungs- und Verwaltungsstaat Bayerns des 19. Jahrhunderts kam aus Frankreich,
  • unsere ersten Eisenbahnen aus England,
  • und Richard Wagner – um im König Ludwig II.–Jahr zu bleiben – kam aus Dresden;

Die Spitze des bayerischen Entwicklungsaktes – wenigstens die – ist damit gewürdigt.

Kohäsionspolitik
Und die europäische Union selbst? Von Anfang an ging es auch um den Ausgleich zwischen den agrarischen und den industriell geprägten Staaten Europas, um einen Transfer mit dem Ziel der wechselseitigen Ergänzung im Dienst einer gemeinsamen, solidarischen Entwicklung und zum Nutzen Aller.

Heute macht die Kohäsionspolitik, die das wirtschaftliche Gefälle innerhalb der EU verringern will, nach der Agrarpolitik den zweitgrößten KostenPosten im europäischen Budget aus.

Alfons-Goppel-Stiftung
Wir betreiben Transfer-Politik weltweit in der Entwicklungspolitik als solidarische Hilfe zur Selbsthilfe – sei es auf staatlicher, öffentlicher Ebene, sei es auf der Ebene der vielen privaten Hilfsorganisationen, zu denen auch die Alfons-Goppel-Stiftung im Rahmen der Welt-Hungerhilfe gehört.

Hans Eisenmann, unser großer Landwirtschaftsminister der siebziger und achtziger Jahre, hat sie mit meinem Vater vor mehr als dreißig Jahren gegründet, wollte damit ein Zeichen setzen, dass nicht nur Menschen in unserer unmittelbaren Nähe der Hinwendung und Unterstützung bedürfen und dass die beste Hilfe für die Dritte Welt die Förderung der Ausbildung ihrer jungen Menschen, des Nachwuchses ist.

(Spannend und einen eigenen Vortrag einmal wert ist die Einstandsgeschichte der Stiftung, die damals längst funktionierende Strukturen der internationalen Nachbarschaftshilfe widerspiegelt.)

Innerbayerischer Transfer
Zurück zum heutigen, naheliegenden Themenansatz: Transfer-Politik gibt es ebenso auch eine innerbayerische Erfolgsgeschichte.
Mit der Teilung Europas und Deutschlands zu Beginn des Kalten Krieges war Bayern, vor allem sein Zonenrand- und Grenzland, in eine extreme Randlage geraten. In einem gewaltigen Kraftakt und Mitteleinsatz ist es der bayerischen Struktur- und Landesentwicklungspolitik gelungen, den schon bald absehbaren Niedergang ganz Ostbayerns abzuwehren.

„Das Land halten!“ war damals das größte politische Anliegen meines Vaters. So war die wichtigste seiner Regierungserklärungen damals überschrieben und setzte das Signal für ein neues, umfassendes Raumverständnis. Bayern hat sich mit Erfolg gegen eine Entleerung, ein Brachfallen seines ländlichen Raumes gestemmt.

Erfolgreiche Landesentwicklung
Gut zwei Jahrzehnte später konnte ich mich dann selbst, als Minister für Landesentwicklung und Umweltfragen von Edmund Stoiber an die Stelle des resignierten Dr. Peter Gauweiler gesetzt, kaum der Besucher aus aller Welt erwehren, die wissen wollten, wie es Bayern gelungen sei, die Landflucht in die Großstädte und damit ein Leerlaufen des flachen Landes zu verhindern.
Die Antwort? Durch eine bewusste, gezielte, konsequente Transfer-Politik, mit Hilfe praktizierter Solidarität der Räume.

Länderfinanzausgleich
Von der solidarischen Hilfe anderer Länder hat auch Bayern selbst im Länderfinanzausgleich lange profitiert. Bis zum Tag der Wiedervereinigung Deutschlands quasi zählten wir zu den Empfängern hilfreicher Leistungen und konnten, können so wie andre kaum ermessen, was die gewaltige Transfer-Leistung bedeutet, die wir seither füreinander und miteinander schultern und wie schwer es fällt und ist, die Empfänger- mit der Geberseite zu tauschen.

Wir wissen also um die Problematik des Länderfinanzausgleichs, zumal es sich manche Länder wie in einer Hängematte bequem gemacht haben.

Auch die Hilfe für die neuen Länder hat ihre Problematik, lässt uns manche Schattenseite des Systems entdecken und angeraten erscheinen, das Ganze neu, unter den anderen Vorzeichen zu überdenken.

Wert der Heimat
Aber wir wissen auch: Hätte Westdeutschland bei der Wiedervereinigung diesen Transfer, diese Solidarität (das gilt insonderheit für den SOLI) verweigert, wäre die Wiedervereinigung letztlich doch gescheitert.

Das Fenster der Geschichte, das nur kurz offen war, hätte sich geschlossen. An einer zweiten Gelegenheit danach zu zweifeln, war mehr als berechtigt. Da sind sich die diversen geistes- und wirtschaftswissenschaftlichen Gelehrten alle einig.

Hilfe, um das Land zu halten, und Hilfe, um die Einheit zu gewinnen: Man muss wissen, was einem die Heimat und das Vaterland wert sind. Das gilt für Bayern, für Deutschland und heute?
Die Einsicht breitet sich aus (wenn auch etwas mühsamer, wie es scheint und mit einer ordentlichen Portion Gegenwind), dass Selbiges wie für unsere Heimat und das Vaterland genauso für Europa gelten wird.

Umverteilung in Euro-Krise
Aber: In der aktuellen Krise geht es ja nicht um diese Art eines solidarischen Transfers. Da geht es um eine gigantische Umverteilung: Die Kosten der Euro-Krise werden nicht von den Verursachern – den Schuldnerstaaten und den Banken – getragen, sondern – wegen derer „Systemrelevanz“ für Europa – auf alle (um)verteilt.

Verteidigung echter Solidarität
In einer solchen Situation, die den Akt der Solidarität pervertiert, ist es gewiss schwierig daran zu erinnern, dass Europa gerade aus einem solidarischen Geben und Nehmen, aus einem Transfer der Menschen und Güter, der Ideen, der Kunst und Kultur erwachsen ist und weiter sich entwickelt
– oder eben auch nicht, in einer inzwischen gänzlich veränderten Globaldynamik.

Wir selbst sind es, die für Klarheit in der Diskussion sorgen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, dass bei der Bewältigung der aktuellen Krise, ausgerechnet da, der Grundwert der Solidarität, der Zusammengehörigkeit, des Wir-Gefühls Europas Schaden nimmt.

Europa – von unten nach oben
Landeshauptmann Wallnöfer
Sind wir für diese Debatte präpariert, die Grundfragen gestellt und durchdacht? Wie sähe ein Gegenprogramm echter Solidarität aus, eines, das die Menschen für Europa, für seine Werte und für sein Wesen gewinnt?

In der schon erwähnten Festschrift für meinen Vater aus dem Jahr 1975 kommt auch der Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer zu Wort, der gute Tiroler Nachbar, enger persönlicher Freund meines Vaters, ein begeisterter Europäer wie mein Vater, weil beide die mörderischen Konflikte der Vergangenheit noch vor eigenen Augen hatten, die – das hatten sich ja alle geschworen – sich nicht wiederholen sollten und durften.

In seinem Beitrag zum Band für den Freund singt Wallöfer das Hohe Lied des Subsidiaritätsprinzips und des Föderalismus – gerade auch in der internationalen Zusammenarbeit und im Zusammenwachsen Europas.

Arbeitsgemeinschaft Alpenländer
Er beschreibt außerdem das Entstehen der „Arbeitsgemeinschaft Alpenländer“. In dieser Arbeitsgemeinschaft haben sich die Länder und Regionen Tirol und Südtirol, Salzburg und Vorarlberg, Bozen, Graubünden und Bayern – und später noch eine Reihe anderer – zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zusammen gefunden und, noch wichtiger, geschlossen.

Sie machten sich daran, gemeinsame Probleme in gemeinsame alpenländische Politikansätze zu gießen und damit einer Verbundlösung näher zu bringen und zu lösen.

Die Alpenregion schaffte mustergültig damals etwas, was den Nationalstaaten mit den Kriegserfahrungen des auslaufenden Jahrhunderts noch nicht so gut von der Hand gehen mochte: der schrittweise Abbau nationalstaatlicher Grenzen im kleinen Grenzverkehr.

Zusammenarbeit über den Eisernen Vorhang
Diesem erfolgreichen Vorbild folgte bald eine Reihe ähnlicher Arbeitsgemeinschaften. Sie reichte – summa summarum – am Ende über den ganzen Alpenraum bis zum Donauraum hin, regelte die Zusammenarbeit der Grenzregionen neu und schuf Brücken selbst über den noch bestehenden Eisernen Vorhang hinweg.
Die neue gemeinsame Grundlage – made in Alponia – sorgte mit für das Tauwetter, das 1989/90 noch ganz andere Dämme brechen ließ.

Schwerpunkt Kultur
Die Arbeitsgemeinschaften pflegen bis zum heutigen Tag diese grenzüberschreitende, europäische Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. In dem Umfang, in dem große Projekte wie etwa des Verkehrs auf gesamteuropäischer Ebene gelöst werden (müssen), konzentriert sich ihre Zusammenarbeit auf Fragen der Kultur, der Bildung, des Umweltschutzes und der regionalen Wirtschaft.

Euregio
In ähnlicher Weise wirken im gesamteuropäischen Raum seit der „Madrider Konvention“ von 1980 die Europaregionen. Bayern mit seinen vielen Grenzen beheimatet eine ganze und variationsreiche Reihe der sogenannten Euregios, die belegen, dass konzentrierte Pflege der Stärken und der gezielte, gemeinsame Abbau der Schwächen einer Region Sinn macht und neue Entwicklungschancen eröffnet:

Euregio Bodensee, Euregio Zugspitze-Wetterstein- Karwendel, Euregio Inntal, Euregio Salzburg-Berchtesgadener Land, Inn-Salzach-Euregio, Euregio Bayerischer Wald-Böhmerwald-Unterer Inn,
Euregio Egrensis. Im Entstehen ist die Europaregion Donau-Moldau mit Niederbayern, Oberösterreich und Südböhmen.

Am „gemeinsamen Haus“ bauen
In diesen Regionen und in den vielen anderen Formen einer grenzüberschreitenden konkreten Zusammenarbeit bekommt das große und in sich fester gegründete Mosaik Europa (hoffentlich endlich) krisenfeste Verzahnungen. Europa als Heimat wird nur von unten nach oben wachsen und zu einem immer dichteren Geflecht von Verbindungen der Menschen werden – als ein Netz des Dialoges und der Verpflichtung zu gemeinsamer Problembewältigung
– der hier lebenden Menschen wegen und nicht den Institutionen, der gemeinsamen Verwaltung oder Sachzwängen zuliebe.

In den Grenzregionen ist Europa längst lebendige Realität und Identität der Menschen. Das „gemeinsame Haus Europa“, von dem Helmuth Kohl gesprochen hat, wird hier, so wie jedes Haus, von unten nach oben gebaut.

Erlebnis der europäischen Vielfalt
Im Austausch mit den europäischen Nachbarn erleben die Menschen die Fülle und Buntheit des gemeinsamen Kontinents, seinen Reichtum und seine Vielfalt und zugleich die tiefe, eben auch geschichtlich gewordene Gemeinsamkeit.

„Ich spreche spanisch zu Gott, italienisch zu den Frauen, französisch zu den Männern und deutsch zu meinem Pferd“
hat der Habsburger Kaiser Karl V. im 16. Jahrhundert die farbige Vielfalt Europas beschrieben.

Trachtenzug beim Oktoberfest
Oder ein Beispiel, das zeitnäher ist: Mir geht das Herz auf, wenn ich die Farbenpracht und Typenfülle beim großen Trachtenzug zum Oktoberfest bewundern darf: Zwischen die Trachtengruppen aus Bayern, für sich genommen – meint man – schon bunt genug, mischen sich unauffällig auffällig und heutzutage ganz selbstverständlich auch die vielen anderen aus unseren Nachbarländern und aus ganz Europa.

Reichtum dieses Kontinents
Sie belegen die Mannigfaltigkeit der Bräuche und der Kulturen in unserem gemeinsamen Europa, unterstreichen die Gemeinsamkeiten und dokumentieren die Unterschiede, präsentieren – je einzeln voller Stolz – damit den ganzen Reichtum dieses Kontinents.

Stolz auf die gemeinsame Heimat
Sie zeigen uns die Verbundenheit der Menschen mit ihren verschiedenen Heimaten, mit ihren regionalen Kulturen und Traditionen. Aus solcher gemeinsamen Freude, dem daraus sich bildenden Zusammenhalt erwachsen gedeihend Verbundenheit und dann auch berechtigter Stolz auf die gemeinsame Heimat Europa.
Spät kann er blühen – dafür jetzt aber zu Recht.

Herrliche Heimat Europa
Bei aller Emphase: Europa macht eine schwierige Zeit durch. Aber gerade darum dürfen und müssen wir uns und allen Anderen vor Augen halten, welch herrliche, filigrane und bunte und deshalb große Heimat Europa ist, welch faszinierende Geschichte diesen Kontinent beschreibt und welch hinreißendes Projekt das der Einigung Europas auch im dritten Anlauf geblieben ist.

Dann kann sie aus der Vielzahl der kleinen Heimaten entstehen, blühen, gedeihen, wachsen, was auch immer – die große Heimat Europa.

Heilmittel für die Sorgen der Welt
Apothekerschrank Europa
Diese große Heimat Europa birgt wie ein Apothekerschrank Heilmittel, die auch anderen Nationen und Kontinenten Hilfe sein können. Im Gegensatz zum Apothekerschrank sind die Schubladen Europas nicht mit Pillen und Pulvern gefüllt, sondern mit Wirkkräften, mit Ideen, Werten und Erfahrungen, die nicht nur in Europa, sondern weltweit ihre heilende, segensreiche Wirkung entfalten könnten.

Europas politische Geschichte
Die Spannungsfelder

  • zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich,
  • zwischen Markt und staatlicher Planung,
  • zwischen zentraler Lenkung und subsidiärer, föderalistischer Selbstbestimmung,
  • zwischen Demokratie und autoritärer Herrschaft

wurden in Europa in Jahrhunderten durchdacht und umkämpft – so intensiv und konzentriert wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Gut der Menschheit
Die Ideen, Programme und praktischen Lösungen, die dabei versucht, verworfen oder verwirklicht wurden, sind allgemeines Gut und von Wert für die ganze Menschheit:

  • Die jungen Menschen der arabischen Länder in ihrem Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung,
  • die postkommunistische, kapitalistische Diktatur, des Riesenreiches China mit seinen gigantischen sozialen und ökologischen Problemen,
  • aber auch unsere amerikanischen Freunde, die eine neue Symbiose von Freiheit, Markt und sozialer Verantwortung suchen:

Sie alle könnten sich aus dem alten Apothekerschrank Europa bedienen.

Arzt, heile Dich selbst
Allerdings gilt auch hier: „Arzt, heile Dich selbst“!
Wir werden andere von unseren „Medikamenten“ nur überzeugen, wenn wir sie selbst nehmen und ihre Wirkung zu- und überzeugen lassen.

Christliche Wurzeln Europas
Und da wir uns im Kloster Andechs zusammengefunden haben: Wir sollten dabei auch nicht vergessen, wem wir die Grundsubstanzen dieser Medikamente verdanken.

Die EU ist
„ein Raum des Friedens und der Stabilität rund um gemeinsame Werte“
hat Papst Benedikt XVI. vor zwei Jahren einmal betont.

Und der Papst weiter:
„Aber man darf doch daran erinnern, dass die EU diese Werte nicht selbst entworfen hat, sondern dass es eher diese gemeinsamen Werte sind, die überhaupt erst zur Bildung der EU geführt haben und die über den Kern der Gründerländer hinaus auch noch andere Nationen angezogen haben.“

„Heimat als europäisches Programm“.
20. Todestag von Alfons Goppel
Heuer am 24. Dezember, am Heiligen Abend, jährt sich der Todestag meines Vaters zum zwanzigsten Mal. Er, der zuerst und zuvorderst auch der Kriegserfahrung wegen überzeugte Föderalist war, muss von Anfang an mit den Gründervätern de Gasperi, Adenauer, de Gaulle und Schumann leidenschaftlicher, überzeugter Europäer gewesen sein.

Widmung der Festschrift
Gleich nach der Gründung, als es darum ging, erste eigen Kräfte nach Brüssel zu schicken, warb er meinen ältesten Bruder für die Kommission ein.
Auf den Tag genau zum Weihnachtsfest des Jahres 1975, ein Jahr nachdem ich in den Landtag gewählt worden war, schenkte er mir die Festschrift zu seinem 70. Geburtstag und versah sie mit der Widmung
“Politik darf auch im Kleinen das Ganze nicht übersehen, darf aber auch das Kleine über dem Großen nicht vernachlässigen.“

Persönliches Zeugnis
Alfons Goppel ist seiner Überzeugung treu geblieben, hat sie vom Kleinen auf das Große übertragen und sich, wie sein eigenes Europamandat am Ende seines Werdegangs belegt, in der Umsetzung nicht beirren lassen.

Verantwortung für die große und die kleine Heimat
Für wenig andere Felder der Politik war und ist eine solche Haltung so wichtig wie für die europäische Einigung, für ihren tatsächlichen Werdegang und für die Suche bzw. die Entdeckung einer Heimat Europa für uns alle.

Über der Sorge für die kleine Heimat die Sorge für das Zusammenwachsen Europas nicht übersehen, und über dem großen Projekt der Einigung Europas die kleine Heimat nicht vernachlässigen – das ist und das bleibt wohl auch „Heimat als europäisches Programm“.

Rede von Dr. Thomas Goppel, MdL, Staatsminister a.D.
XXXVI. Andechser Europatag der Paneuropa-Union Deutschland und Robert-Schumann-Stiftung – Alfons-Goppel-Symposium
„Heimat als europäisches Programm“
Kloster Andechs, am 15.10.2011

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